Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) unterscheidet sich in vielen Aspekten von der westlichen Schulmedizin. Einer der markantesten Unterschiede liegt in der Art und Weise, wie die Diagnose gestellt wird – nämlich durch eine ganzheitliche und tiefgründige Anamnese. Die TCM Anamnese ist nicht nur ein Gespräch, sondern ein komplexes diagnostisches Instrument, das Körper, Geist und Umwelt berücksichtigt. In diesem Beitrag erfährst Du, wie die Anamnese in der TCM abläuft, welche Methoden zum Einsatz kommen und warum sie die Grundlage jeder erfolgreichen Behandlung darstellt.
Was ist die TCM Anamnese?
Die Anamnese in der Traditionellen Chinesischen Medizin ist der erste und vielleicht wichtigste Schritt auf dem Weg zur individuellen Heilung. Sie geht weit über das bloße Erfassen von Symptomen hinaus. Vielmehr zielt sie darauf ab, die zugrunde liegenden Disharmonien im Körper aufzuspüren. Ziel ist es, ein umfassendes Bild der energetischen Situation eines Menschen zu erhalten – körperlich, emotional und geistig.
Während in der Schulmedizin oft ein Fokus auf einzelne Symptome gelegt wird, betrachtet die TCM den Menschen als Einheit. Krankheiten entstehen nach TCM-Verständnis durch ein Ungleichgewicht von Yin und Yang, Störungen im Fluss des Qi (Lebensenergie) oder Blockaden in den Organfunktionen.

Die vier diagnostischen Säulen der TCM Anamnese
Die TCM Anamnese stützt sich auf vier diagnostische Methoden – auch als die „vier diagnostischen Säulen“ bekannt. Diese sind: Betrachten, Hören und Riechen, Befragen sowie Tasten.
1. Betrachten (Wang Zhen)
Der Therapeut/die Therapeutin beobachtet den Patienten/die Patientin genau – von der Körperhaltung über den Gesichtsausdruck bis hin zur Zungenbeschaffenheit. Besonders wichtig ist die Zungendiagnostik, denn die Zunge gilt in der TCM als Spiegel der inneren Organe. Farbe, Belag, Form und Beweglichkeit liefern wertvolle Hinweise auf energetische Zustände und mögliche Disharmonien.
2. Hören und Riechen (Wen Zhen)
Hier werden Stimme, Atmung und Gerüche analysiert. Eine heisere Stimme, flacher Atem oder auffälliger Körpergeruch können Hinweise auf bestimmte energetische Zustände oder Krankheitsmuster geben.
3. Befragen (Wen Zhen)
Dieser Teil entspricht am ehesten dem klassischen Anamnesegespräch in der Schulmedizin – geht aber deutlich tiefer. Typische Fragen betreffen:
- Schlafverhalten
- Appetit und Verdauung
- Menstruation (bei Frauen)
- Urin- und Stuhlverhalten
- Emotionale Verfassung
- Kälte- und Hitzeempfinden
- Lebensstil und Umweltfaktoren
Das Ziel ist, ein möglichst vollständiges Bild des Patienten/der Patientin zu bekommen – ohne vorschnelle Bewertung.
4. Tasten (Qie Zhen)
Hier spielt besonders die Pulsdiagnose eine große Rolle. Dabei wird an beiden Handgelenken an drei Stellen jeweils in drei Tiefen der Puls ertastet. Es gibt über 28 verschiedene Pulsqualitäten, die auf unterschiedliche Organe und energetische Muster hinweisen können. Auch der Körper wird auf Spannungen, Schmerzen oder Temperaturunterschiede hin abgetastet.
Ganzheitlich denken: Die individuelle Konstitution verstehen
Ein zentrales Element der TCM Anamnese ist das Verständnis der individuellen Konstitution eines Menschen. Jeder Mensch ist einzigartig – mit einer eigenen energetischen Struktur, Stärken und Schwächen. Zwei Menschen mit denselben Symptomen können in der TCM zwei völlig unterschiedliche Diagnosen erhalten, weil die Ursachen ihrer Beschwerden unterschiedlich sind.
Daher ist das Ziel der Anamnese nicht nur, die Symptome zu erfassen, sondern vor allem, das dahinterliegende Muster zu erkennen – zum Beispiel eine Leber-Qi-Stagnation, Milz-Qi-Schwäche oder ein Yin-Mangel.
Warum dauert die TCM Anamnese oft länger?
Viele Erstgespräche in der TCM-Praxis dauern 60 bis 90 Minuten. Das mag auf den ersten Blick lang erscheinen, ist aber notwendig, um die komplexen Zusammenhänge wirklich zu erfassen. Je gründlicher die Anamnese, desto gezielter und effektiver kann die Behandlung sein – sei es mit Akupunktur, Kräutertherapie, Tuina-Massage oder Ernährungsempfehlungen.
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Beispiel: Zwei Patienten, ein Symptom – verschiedene Ursachen
Angenommen, zwei Patient:innen klagen über Schlafstörungen:
- Patient A hat Einschlafprobleme, ist gestresst und hat oft Kopfschmerzen. Die Zunge ist gerötet, der Puls drahtig. → Diagnose: Leber-Feuer stört das Herz.
- Patientin B wacht nachts oft auf, fühlt sich erschöpft, friert leicht, hat blasse Lippen. → Diagnose: Herz- und Milz-Qi-Schwäche.
Beide Symptome ähneln sich – die Behandlung jedoch wird völlig unterschiedlich ausfallen. Genau das macht die TCM Anamnese so wertvoll.
TCM Anamnese: Brücke zwischen Mensch und Therapie

Die TCM Anamnese ist mehr als eine Diagnosemethode – sie ist auch ein Akt des Zuhörens, der Achtsamkeit und der Beziehung. In einer Zeit, in der viele Patient:innen sich in der Schulmedizin nicht gesehen oder gehört fühlen, bietet die TCM einen Raum für echte Begegnung.
Hier wird nicht nur gefragt: „Was fehlt dir?“ – sondern auch: „Wie geht es dir wirklich?“ Dieser ganzheitliche Ansatz ist es, der die TCM für viele Menschen so attraktiv macht – vor allem bei chronischen Beschwerden, Erschöpfung oder psychosomatischen Leiden.
Warum in der Anamnese das Vertrauen zum behandelnden Arzt/zur behandelnden Ärztin so wichtig ist, darüber sprechen wir in Folge 2 des Podcasts „Die TCM-Docs“.
Fazit: Anamnese in der TCM – der erste Schritt zur Heilung
Die TCM Anamnese bildet das Herzstück der chinesischen Heilkunst. Sie schafft die Grundlage für eine individuelle, ganzheitliche Therapie, die den Menschen in seiner Gesamtheit sieht. Wer bereit ist, sich auf diesen tiefgründigen Prozess einzulassen, findet oft neue Zugänge zu sich selbst – und neue Wege der Heilung.
Wenn Du selbst eine TCM-Therapie in Betracht ziehst, nimm Dir Zeit für die Anamnese und sei offen. Je ehrlicher und vollständiger Du Dich mitteilst, desto präziser kann Dein TCM-Arzt/Deine TCM-Ärztin Dir helfen. Und wer weiß – vielleicht findest Du dabei Antworten, nach denen Du gar nicht gesucht hast.
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